In loser Folge sollen hier Korrespondenzen, Informationen und Materialien zur aktuellen Entwicklung in der Türkei/SyrienRojava veröffentlicht werden. Sie werden von einem Analyseteam erstellt. Hinweise werden gerne entgegen genommen.
31. Juli 2015
Türkisches Regime hält an Politik offener Kriegshandlungen gegen den kurdischen Befreiungskampf und zur Unterdrückung der demokratischen und revolutionären Kräfte in der Türkei fest
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Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtet am 31.7.: „30 türkische F-16 Kampfflugzeuge der türkischen Luftwaffe haben eine neue Welle der Bombardierung gegen Ziele der PKK im Nordirak gestartet. Die F-16 Flugzeuge haben 5 Gebiete im Nordirak angegriffen.“
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Am 30.7. überflogen mehrfach Kampfflugzeuge auch die Stadt Kobanê. Dazu erschien am 30.7. abends in kurdisch nachfolgende Erklärung der YPG Kobanê auf Hawar News (mit der PYD verbundene Nachrichtenagentur von Rojava): „Wir erwarten vom türkischen Staat eine Erklärung. Heute sind zwischen 9.00 und 11.00 regelmäßig türkische Kampfflugzeuge provokativ über die Stadt Kobanê geflogen. Bereits vorher, am 27.7. haben türkische Kampfflugzeuge Stellungen der YPG/YPJ und der Burkan-El-Firat Einheiten überflogen beim Kampf um die Befreiung von Sirrin. Am 24. Juli haben türkische Landstreitkräfte im Gebiet von Kobanê das Dorf Zornexar beschossen. Dabei wurden 4 Kämpfer der FSA verletzt. Obwohl der türkische Staat das weiß und dies von der Weltöffentlichkeit beobachtet wird, hat der türkische Staat darauf nicht reagiert. Wir fordern den türkischen Staat auf, zu diesen Vorfällen Stellung zu nehmen.“ Dies wird als Provokation eingeschätzt, nicht als Übergang zu direkten Kampfhandlungen gegenüber Kobanê.
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Zum Verhältnis von Angriffen auf Stellungen des IS und auf Stellungen der PKK heißt es in der FAZ vom 30. Juli in einem Kommentar auf S. 1 mit der Überschrift „Krieg gegen die Kurden“: „Die türkischen Kampfflugzeuge haben bisher zehnmal mehr Einsätze gegen Stellungen der PKK als gegen jene des IS geflogen. Zudem dauert die Verhaftungswelle an, die sich weniger gegen Kämpfer des IS richtet als gegen die kurdischen Aktivisten der HDP.“ In einer Zwischenüberschrift heißt es: „Gegen den IS kämpft die Türkei zum Schein, das Ziel ist die PKK.“
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Demirtas, der Co-Vorsitzende der HDP erklärt zu den Angriffen am 31.7. in einem Interview mit Reuters: „Die Türkei hat einige Angriffe gegen den IS geführt, das mehr zur Schau, ohne dass dies zu einem nachhaltigen größeren Schaden führte. … Das Hauptziel ist die Verhinderung eines kurdischen geschlossenen Gebietes im Norden von Syrien.“
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Durch die türkische Regierung sind im Süd-Osten der Türkei in der Provinz Sirnak 9 Gebiete zu „verbotenen militärischen Sicherheitszonen für die Dauer von 15 Tagen“ erklärt worden.
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In den letzten Tagen kam es zu weiteren Verhaftungen in der Türkei, diesmal fast ausschließlich von prokurdischen und linken Kräften. Gegen Demirtas hat die türkische Staatsanwaltschaft jetzt offiziell ein Strafverfahren eingeleitet. Ihm wird vorgeworfen „Bevölkerungsgruppen zur Bewaffnung provoziert und gegeneinander aufgewiegelt zu haben. Sollte es zur Anklage kommen, drohen Demirtas 24 Jahre Haft. Es geht dabei um gewalttätige Kurdenproteste im Oktober letzten Jahres …. gegen die Weigerung der türkischen Regierung protestiert hatten, die syrischen Kurden gegen die IS-Miliz im Kampf um Kobanê zu unterstützen. Erdogan forderte das Parlament in dieser Woche auf, die Immunität für Abgeordnete aufzuheben, denen er Verbindungen zur PKK unterstellte.“ (Tagesschau, 31.7. 2015, 9.46h)
Verstärkte sozialchauvinistische Hetze in den türkischen Medien
In den „Deutsch-türkischen-Nachrichten“, einem regierungsnahen Online-dienst wird von einem Yasin Baş Politologe, Historiker, Autor und freier Journalist, unter dem Titel „ Falsches Spiel mit „guten“ und „bösen Terroristen“ folgende demagogische Argumentationskette entwickelt:
Die sogenannte IS sei eine Terrorgruppe, die Auslöschung verdiene, weil sie dem Ansehen des Islam schade; aber mit Begriffen wie „kurdische Rebellenorganisation“ werde der gleich schlimme terroristische Charakter der PKK und ihrer Schwestermiliz YPG („Volksschutzeinheiten“) geleugnet. Kern des Konflikts sei, dass der souveräne Staat Türkei das Recht habe, sich gegen eine „multiethnische Terrororganisation, die für verschiedene Interessen, Akteure und Staaten tätig“ sei, wehren müsse. Zugleich wird in einer gewissen Weise die Argumentation von Merkel von der ‚Verhältnismäßigkeit‘ aufgegriffen, wenn er schreibt: „Der jetzt kurzzeitig ausgesetzte Friedensprozess zwischen Türken und Kurden muss nach der erfolgten Bekämpfung der PKK unbedingt fortgeführt werden.“1
Rojava
Aktuell haben sich Kämpfe jetzt auch im Kanton Efrin zwischen Einheiten der YPG/YPJ und den Al Nusra Banden entwickelt. Diese würden sich nach einem Bericht von ANF gegenwärtig auch ausbreiten.
Der Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte Rami Abdulrahman ihat ausdrücklich erklärt, dass „Vorwürfe, wonach die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) nach der Befreiung der strategisch wichtigen Grenzstadt Girê Spî (Tal Abyad) ethnische Säuberungen gegen arabische und turkmenische Bevölkerung begannen habe“ falsch sind. Wörtlich sagte er: „Von ‚ethnischen Säuberungen‘ in Til Abyad gegen die Araber oder Turkmenen kann keine Rede sein. Wenn die YPG Araber und Turkmenen vertreiben wollte, hätte sie dies bereits bei der Befreiung von den Dörfern getan. Es kommt jedoch vor, dass – wenn der IS vertrieben ist – die Bewohner aufgefordert werden, wegen Minengefahr nicht sofort wieder in ihre Dörfer zu gehen. In einigen Dörfern, wie in Dogan oder Al Bajela, wurden die Bewohner länger daran gehindert, zurückzukehren, weil in den Dörfern noch IS-Kämpfer vermutet wurden“, fügte er hinzu. Auf die Frage weshalb die Vorwürfe über „ethnische Säuberungen“ vor allem aus der Türkei und der zum Assad-Regime in Opposition stehenden Syrischen Koalition kommen, antwortete Rami Abdulrahman, der Leiter der SOHR, wie folgt: „Das ist doch klar, warum diese Vorwürfe von der türkischen Regierung kommen. Was die Syrische Koalition betrifft, so hat sie das wiederholt, was Recep Tayyip Erdogan einige Zeit davor gesagt hatte. Ich wiederhole: Die türkische Regierung steht den Kurden sowohl in der Türkei als auch in Syrien feindselig gegenüber. Sie befürchtet eine Stärkung der kurdischen Position in der Region. Ich erinnere daran, dass im Herbst 2014 mindestens 300.000 Kurden durch den IS vertrieben wurden. Von ‚ethnischen Säuberungen‘ gegen die Kurden hat damals die türkische Regierung nicht gesprochen. Ganz im Gegenteil. Die türkische Regierung hat mit dem IS kooperiert. Es gibt dutzende arabische Dörfer bei Kamischli, weiter im Osten. Die Araber leben immer noch dort und werden von der YPG auch geschützt“, stellte er klar.
Repressives Vorgehen seitens des deutschen Staatsapparates, Verfassungsschutz und Justiz
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Aktuell veröffentlichte der Inlandsgeheimdienst Verfassungsschutz eine 43-seitige Broschüre zur PKK. In einem eigenen Abschnitt heißt es dazu in übler reaktionärer und diffamierender Manier: „Beziehungen zwischen der PKK und deutschen Linksextremisten: Wechselwirkungen bestehen auch zwischen der PKK und deutschen linksextremistischen Gruppen. Die PKK wird von derartigen Organisationen punktuell propagandistisch unterstützt. Dies erfolgt vornehmlich dann, wenn sich die vom linksextremistischen Spektrum besetzten Aktionsfelder und das Themenpotential der PKK überschneiden. Bereits im Mai 2010 gründeten PKK-nahe linksextremistische Gruppen ein bundesweites deutsches Aktionsbündnis unter der Bezeichnung „Tatort Kurdistan“. An dem Bündnis sind von PKK- Seite insbesondere die YEK-KOM, die sich im Juni 2014 in NAV- DEM umbenannte, sowie auf linksextremistischer Seite u.a. die „Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands“ (MLPD) und die „Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin“ (ARAB) beteiligt. Die Kampagne zielt darauf ab, angebliche Verwicklungen deutscher Behörden sowie der Industrie in den „Krieg der Türkei gegen die kurdische Zivilbevölkerung“ aufzuzeigen. Zudem fordert die Kampagne die Aufhebung des Betätigungsverbots gegen die PKK in Deutschland. “
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Das geht mit der Einleitung weiter Strafverfahren wegen den §§ 129 a/b StGB und weiteren Verhaftungen angeblicher PKK-Funktionäre einher, bzw. revolutionärer Kräfte aus der Türkei wie der TKP/ML oder DHKP/C. Am Dienstag verurteilte das Oberlandesgericht Stuttgart 4 angebliche Funktionäre der DHKP/C zu Strafen von 4 Jahren 9 Monaten bis 6 Jahren; vorgeworfen wurden ihnen dabei vor allem öffentliche Aktivitäten im Rahmen der Anatolischen Föderation. Der Vorsitzende Richter bezeichnete die DHKP/C als die „gefährlichste Terrororganisation in der Türkei“.
30. Juli 2015
Bericht der türkischen Menschenrechtsvereinigung IHD:
Die türkische Menschenrechtsvereinigung hat am 29.07.2015 einen interessanten Bericht veröffentlicht, der den Hauptstoß der türkischen AKP-Regierung gegen fortschrittlich-revolutionäre Kräfte belegt:
„Die Operationen müssen gestoppt werden, die Isolation enden“
Die IHD erklärte, dass nur 140 Leute wegen ihrer Verbindungen zum ISIS verhaftet wurden und 22 wegen angeblicher Mitgliedschaft in der Gulen-Bewegung. Die restlichen der 1034 verhafteten Personen werden beschuldigt, PKK/KCK Mitglied zu sein, was die Anzahl der verhafteten Kurden und Revolutionäre auf 872 bringt. Der İHD fügte hinzu, dass es seit dem 21.7. 38 Angriffe der Polizei auf Treffen und Proteste von linken und sozialistischen Gruppen gab.
İHD Präsident Öztürk Türkdoğan erklärte, dass die Türkei keine effektive Untersuchung gegen ISIS (…) durchgeführt hat (…).
Türkdoğan erinnerte an die Ergebnisse von vorherigen Kriegsprozessen (…). Türkdoğan zitierte auch aus Daten des Innenministeriums, die bestätigen dass 378.335 Menschen zur Flucht gezwungen wurden und fügte hinzu, dass NGO Berichte diese Zahl auf zwischen 1 bis 3 Millionen schätzen. Türkdoğan betonte, dass der Staat damit Terrormethoden anwendet und beschrieb die unilaterale Anwendung des Begriffes „Terrorismus“ als weder legitim/rechtsgültig, noch wahr.
Türkdoğan listet in der Presseerklärung des İHD die folgenden Forderungen auf:
– Der Staat muss die militärischen und politischen Operationen sofort beenden, seine Gewalt beenden, und damit beginnen, Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes zu bestrafen, die Menschenrechte verletzt haben. (…)
Türkdoğan erklärte, dass die HDP als eine Partei mit 6 Millionen Wählern nicht mundtot gemacht werden kann. Er erwähnte, dass die mobilisierten Wähler sofort eine alternative Partei gründen würden und fragte den Staatsanwalt, der versucht, die HDP zu verbieten, was er unternommen hätte zu den in den Roboski und Suruç Massakern massakrierten Zivilisten.
Internationale Solidarität und Hilfe
Zahlreiche migrantische Großverbände und solidarische Organisationen haben für den 08.08.2015 in Köln eine bundesweite Großdemonstration gegen die Kriegspolitik der Türkei angekündigt. Yüksel Koc, Co-Vorsitzender des Kurdischen Gesellschaftszentrum Nav-Dem (Dachverband kurdischer Vereine in der BRD), erklärte bei einem Telefonat: “Wir können nicht tatenlos zusehen, wie eine machtgieriger Staatspräsident, für den Erhalt seiner Alleinherrschaft den ganzen Mittleren Osten in einen noch größeren Krieg zieht. Er muss Rojava, die HDP, die kurdische Freiheitsbewegung, die Kurden und Kurdinnen und ihren Repräsentanten Abdullah Öcalan endlich auf Augenhöhe anerkennen und die von ihnen gereichte Hand des Friedens annehmen. Deshalb werden wir gemeinsam mit all unseren Freundinnen und Freunden, solidarischen Organisationen und KriegsgegnerInnen am 8.8. in Köln auf die Straßen gehen.”
Am 01.08.15 ist eine landesweite Jugenddemonstration in NRW (Köln) geplant.
Für den Wiederaufbau von Kobane wurde eine internationale Online-Spendenaktion über die Homepage https://www.firefund.net ins Leben gerufen. Diese wird offiziell von dem Kobanê Wiederaufbau Board http://helpkobane.com unterstützt Dazu wurde eine umfangreiche Analyse mit internationalen Experten erstellt, in der die wichtigsten Bedürfnisse des Kantons ermittelt wurden. Als vorrangige Aufgabe wurde die Beseitigung der Trümmer bestimmt, wozu dringend schwere Maschinen benötigt werden. Es wird betont, dass nicht nur Widerstand geleistet wird, sondern auch der Wiederaufbau einer freien Gesellschaft.
Kritische Worte aus Deutschland
Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir hat den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und dessen Kurdenpolitik mit scharfen Worten kritisiert. „Wir können nicht wegschauen, wenn ein Land, das bis gestern noch in die EU wollte, sich unter Erdoğan in ein Mini-Pakistan mit einem autoritären Herrscher direkt an der europäischen Grenze verwandelt“, sagte Özdemir der „Passauer Neuen Presse“. „Ich sehe ein Land, das ohne Not durch seinen Herrscher ins Chaos gestürzt wird.“
Defensive der türkischen Regierung und weitere Verschärfung gegen die PKK, HDP
Es gibt keine Anzeichen für eine Entschärfung der Situation in der Türkei. Die militärischen Angriffe der Türkei steigern sich laut Presseberichten in Deutschland und kurdischer Seite. Die Luftangriffe auf die kurdische PKK im Irak hätten Dienstagnacht ihren bisherigen Höhepunkt erreicht, sagt ein deutscher Regierungsbeamter. Bei den Luftangriffen der türkischen Armee auf PKK-Rückzugsgebiete in den nordirakischen Kandil-Bergen seien mindestens 200 PKK-Kämpfer getötet worden, berichtet ARD. Der Sender beruft sich auf türkische Medienberichte. Seit Dienstag werden erstmals auch Stellungen der Kurdenrebellen auf türkischem Boden angegriffen. Auch die willkürlichen Verhaftungen gegen kurdische und linke AktivistInnen in der Türkei und in Nordkurdsitan halten an. (zahlreiche Festnahmen in den Städten Adana, Antalya, Izmir, Mardin, Hakkari, Mus, Erzurum, Hatay, Urfa, Adiyaman, Antep.) Eine Polizeioperation richtete sich gegen das HDP Büro des Istanbuler Stadtteils Basaksehir. Die Polzei begründetete diese Hausdurchsuchung, bei der Fenster und Türen eingeschlagen wurden, dass es im Büro Waffen gebe. Gefunden wurde natürlich nichts. Die PKK hat ihrer Guerillaaktionen wieder aufgenommen.
Die AKP-Regierung will mit Neuwahlen und verschärften Repressionen aus ihrer Defensive heraus kommen. Die Hohe Wahlkommission in der Türkei hat Neuwahlen angekündigt; wahrscheinlich am 15. oder 22. November. Um dabei Erdogans Ziel zu erreichen, die HDP unter die 10 % Hürde zu drücken und selbst 50 % und mehr zu erreichen, wird der Kriegskurs gefahren und im Inneren die demokratische und revolutionäre Opposition angegriffen. Zynisch gesprochen folgt Erdogan dem Motto, „tote türkische Soldaten und Polizisten durch die PKK bringen nationalistische Stimmen“. Der Vorsitzende der CHP (Sozialdemokraten), Kemal Kılıçdaroğlu, hat 5 Bedingungen für eine Koalition mit der AKP genannt, neben Ausbildung, Außenpolitik, Verfassungsfragen und Wirtschaftsfragen nannte er die Fortsetzung des Friedensprozess mit den Kurden. Damit gebe es unter den gegenwärtigen Bedingungen keine Grundlage für eine solche Koalition. AKP und die faschistische MHP stimmten gemeinsam einen Antrag der CHP auf Einrichtung eines Untersuchungsausschusses zur „Terrorwelle durch den IS und die PKK“ nieder. Dieser war auch von der HDP befürwortet. Im Auftrag der Regierung informierte der Beauftragte des Premierministers Bülent Arınç über „den Kampf gegen den Terrorismus“: Landesweit seinen 1061 Personen verhaftet worden.
29. Juli 2015
Militärische Lage nach Berichten der YPG
Militärisch hat die YPG am 28.7. einen sehr wichtigen Sieg gegen den IS errungen, indem sie die Stadt Sîrrin südwestlich von Kobane vollständig befreit hat. Von Sîrrin aus, waren die jüngsten Angriffe auf Kobane ausgegangen und Sirrîn war ein wichtiger logistischer, militärischer und politischer Stützpunkt des IS. Moralisch war es ein weiterer wichtiger Sieg, bei dem IS-Kämpfer die Flucht ergriffen. Militärische Auseinandersetzungen gab es auch im Süden von Tell Abyad, wo der IS versuchte anzugreifen, aber zurückgeschlagen wurde. Aus der Stadt Hassaka im Nordosten des Landes wurde der IS gemeinsam nach 33 Tagen vertrieben. Seit dem 25. Juni seien in diesem Kampf mindestens 287 IS-Kämpfer getötet worden, berichtete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Der Kurdische Nationalkongress gratulierte zu diesem Sieg und verurteilte zugleich die türkischen Angriffe. Der YPG-Sprecher Redur Xelil dementierte, dass die Tötung der zwei türkischen Polizisten von Rojava ausgegangen sei und die YPG etwas damit zu tun hätte.
Inzwischen wurden auch von der Türkei befreite Gebiete der PKK innerhalb der Türkei angegriffen. Der Provinzgouverneur der kurdischen Provinz Hakkari hat in einer Mitteilung angeordnet, dass alle ZivilistInnen die Berg-Almen in der Provinz verlassen sollen. Diese Entscheidung deutet auf die Vorbereitung eines umfassenden Krieges gegen die Guerilla hin.
Der bekannte PKK-Kommandant Duran Kalkan wandte sich in einem Interview an die türkische Regierung „Ich will der AKP zuerst folgendes sagen: ‚Seid vernünftig! Diese Politik (der
Bombardierungen und des Krieges) hat zu nichts geführt und wird auch nun zu nichts führen.(…) Das Volk erwartet von uns, dass … wir Kurdistan befreien und die Türkei demokratisieren“. Nach Anschlägen auf Gas-Pipelines und Elektrizitätsleitungen wurde der Verdacht ohne konkrete Beweise auf die HDP und die PKK gelenkt. Erdogan forderte die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von „Abgeordneten mit Verbindungen zur PKK“, jedoch kein Verbot der HDP. Es sei nicht möglich, mit denjenigen einen Lösungsprozess fortzuführen, die die „Einheit und Integrität der Türkei untergraben“, so Erdoğan. Damit soll die kurdische Bewegung und die Solidarität gespalten werden. Abdullah Öcalan ist seit April wieder in Isolationshaft und Äußerungen von ihm sind nicht bekannt.
Ergebnisse des außerordentlichen Ratstreffen der NATO am 28.07.2015
Die NATO-Staaten sprachen der Türkei ihre Solidarität aus. Es wurde von der Türkei, die die zweitgrößte NATO-Armee hat, keine militärische Unterstützung gefordert und auch kein Bündnisfall ausgerufen. In seiner Erklärung bezieht sich der NATO-Generalsekretär auf den Kampf gegen ISIS und gegen den „Terrorismus“. Die PKK bzw. die kurdischen Kräfte werde mit keinem Wort genannt. Auf die Frage nach der Sicherheitszone, erklärte der Generalsekretär, dass dies eine bilaterale Angelegenheit der USA und der Türkei sei und die NATO „nicht Teil dieser Anstrengungen sei“.
Die von den USA und der Türkei geplante Sicherheitszone soll auch dazu dienen, einen Zusammenschluss der Kantone Afrin und Kobane zu verhindern. Denn dann wäre der Zugang der Türkei nach Syrien entweder durch die Kurden bzw. das Assad-Regime (am Meer) abgeriegelt. Das Gebiet der Sicherheitszone ist die einzige Gegend in Syrien, in der sich IS, Freie Syrische Armee und al-Nusra-Front bekämpfen. Faktisch würde eine Schutzzone für die jihadistischen Gruppen geschaffen, um diese vor der vorrückenden YPG und vor Assads Luftwaffe zu schützen. Möglicherweise plant die Türkei mit einer Rückführung syrischer Flüchtlinge in dieses Gebiet auch eine Veränderung der Zusammensetzung der Bevölkerung. Der Co-Vorsitzende der PYD Salih Müslem sagte: „Die Menschen vor Ort, Kurden und Araber, die dort leben haben seit langem den Krieg gegen den IS geführt und sie können nicht ignoriert werden. Es ist bis heute nicht klar ob die Türkei sich auf die Seite dieser Kräfte stellen wird oder sie bei einem möglichen Einmarsch in diese Gegend angreifen wird.“
28. Juli 20.25
Repression vor allem gegen Linke und kurdische Aktivisten
Am 25.07.2015 gingen in Deutschland 15 – 20 000 Menschen auf die Straße, um gegen die Repressionen und Bombardements der Türkei gegen den kurdischen Befreiungskampf zu demonstrieren.
Nach dem Massaker von Suruc am 20.07. mit 32 Toten und über 100 Verletzten hat die türkische Regierung am 24.07.2015 in rund 20 Provinzen sowie in 26 Stadtteilen in Istanbul mit rund 5000 Polizisten und 2000 Aufstandsbkämpfungseinheiten Razzien und Verhaftungen unter dem Schlagwort „Bekämpfung von Terrororganisationen“ durchgeführt. Nach Darstellung der türkischen Regierung richtete sich das gegen den „terroristischen IS, die terroristische PKK und terroristische linksextremistische Organisationen“. In Wirklichkeit waren von der Operation vor allem linke Kräfte und des kurdischen Befreiungskampfes getroffen. Neben der Verhaftungswelle von Hunderten kurdischen Aktivisten und Revolutionären in der Türkei hat ein Gericht (Ankara Criminal Court of Peace) die Abschaltung von fast 100 kurdischen und linken Websites bestätigt. Innenpolitisch reagierte die AKP-Regierung damit auf das Erstarken der HDP, indem sie diese kriminalisiert. Aufgrund der massiven Kritik an der Unterstützung des IS, vollzieht sie gegenüber dem IS einen Taktikwechsel. Sie hofft so bei wahrscheinlichen Neuwahlen eine absolute Mehrheit zu erringen.
Bombardierungen der Stellungen der PKK im Irak
Es wurden ab dem 25.07. Stellungen der IS und vor allem der PKK im Nordirak bombardiert. Auch einzelne Stützpunkte der YPG in Rojava wurden beschossen. Der Artilleriebeschuss des Dorfes Sor Maghar wird vom Außenministerium geleugnet. Ein „hochrangiger Regierungsmitarbeiter in Ankara erklärte, die türkischen Streitkräfte hätten lediglich Beschuss erwidert, aber nicht auf YPG-Kämpfer gefeuert“. Die türkische Regierung betont, dass die ‚syrischen Kurden nicht ihre Feinde‘ seien und auch nicht militärisch angegriffen würden. Hier wird politisch auf den Umstand Rücksicht genommen, dass sich die USA bei ihren Luftangriffen auf den IS auf die Kräfte der PYD/ YPG und YPJ stützen. Präsident Erdogan und Premierminister Davutoglu verfolgen mit Unterstützung der USA, den Plan einer Pufferzone zwischen dem Kanton Afrin im Westen und dem Euphrat (Dscharabulus) im Osten unter Kontrolle der Freien Syrischen Armee zu errichten. Details seien noch offen, schrieb die ‚New York Times‘. „’Ziel ist es, eine IS- freie Zone zu schaffen und mehr Sicherheit und Stabilität entlang der türkischen Grenze zu Syrien zu gewährleisten‘, zitierte die Zeitung einen Mitarbeiter der US-Regierung. Dafür sollten US-Kampfflieger, syrische Rebellen und das türkische Militär in der umkämpften Region künftig enger kooperieren. Laut ‚Washington Post‘ will die US-Regierung aber nicht offiziell von einer ‚geschützten Zone‘ sprechen. Auch eine von der Türkei seit längerem geforderte Flugverbotszone solle es dadurch nicht geben.“ Am 27.07. wurde Davutoglu zitiert, dass in den vergangenen 24 Stunden „Unterkünfte, Logistikzentren und Verstecke“ der PKK angegriffen worden wären. Ausdruck der Verschärfung ist, dass Erdogan sich von der „Erklärung von Dolmabahce“ vom 28.2.2015 (Friedensprozess mit der PKK) distanziert hat.
Barzani gerät aufgrund der Angriffe auf die PKK im kurdischen Autonomiegebiet im Nordirak in die Defensive. Die Nachrichtenagentur AFP schreibt: „Davutoglu sprach nach eigenen Worten zuvor mit dem Präsidenten der autonomen Kurdenregion im Irak, Massud Barsani, der die Luftangriffe gutgeheißen habe. Barsani erklärte jedoch später, er habe in dem Telefonat seinen „Unmut über die gefährliche Lage“ ausgedrückt.“
Währenddessen hat die YPG die südwestlich von Kobane am Euphrat gelegene Stadt Sarrin vollständig befreit.
Die Haltung der NATO-Staaten zu den Angriffen der Türkei auf die PKK
Die führenden Nato-Staaten vertreten hier taktisch unterschiedliche Interessen. Die USA stärkt Ankara den Rücken. Ankara habe das ‚Recht‘, gegen ‚terroristische Ziele‘ vorzugehen, sagte der Vize-Sicherheitsberater von US-Präsident Barack Obama, Ben Rhodes, in der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Zugleich begrüsste Rhodes das ‚entschlossenere‘ Vorgehen Ankaras gegen die IS-Miliz. Auch bezogen auf Syrien sagt das Pentagon, dass sie nicht mit der PKK zusammenarbeiten wollen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Pentagon-Chef Ashton Carter am 24.07.15 ungeplant nach Erbil/Nord Irak geflogen ist und sich dort mit dem Chef der kurdischen Autonomieregion Barzani getroffen hat.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg warnte den türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu davor, mit den Luftangriffen gegen die PKK den Friedensprozess mit den Kurden zu gefährden „das türkische Militär müsse ‚verhältnismäßig‚ gegen die PKK-Stellungen vorgehen, dürfe nicht unnötig zu einer Eskalation des Konflktes beitragen.“ (Bild vom 28.7.) In der Pressemitteilung heißt es: „Die NATO-Verbündeten beobachten die Entwicklungen sehr genau und stehen solidarisch zur Türkei.“ 2 Verschiedene bürgerliche Politiker sehen aber keinen Bündnisfall. Dies würde einen bewaffneten Angriff auf die Türkei bedeuten und die NATO-Staaten wären verpflichtet militärischen Beistand zu leisten.
Die Sprachregelung der deutschen Regierung besteht in einem ähnlichen kritischen Hinweis an die Türkei, den „Friedensprozess nicht zu gefährden“. Steinmeier äußerte in einem Telefon an den türkischen Amtskollegen, dass er „Verständnis für die schwierige Lage der Türkei mit ihrer 900 Km langen Grenze“ zu Syrien habe. Er gäbe aber zu Bedenken, dass ihn die Sorge umtreibe, „dass der mühsam aufgebaute Friedensprozess mit den Kurden dahin sein könnte“. Gleichzeitig wird von deutscher Regierungsseite weder das PKK-Verbot in Frage gestellt, noch die Faschisierungsmethoden mit den Razzien oder die Absicht eine Pufferzone zu erreichten, angeprangert.
Kritik an Ankara vor dem außerordentlichen Ratstreffen am 28.07.2015 der 28 NATO-Staaten nach Artikel 4 des NATO-Vertrages
Die bundesdeutsche Massenmedien heben alle hervor, dass die kurdischen bewaffneten Einheiten einen wesentlichen Anteil an der Anti-IS-Koalition haben. Sie folgen nicht der US-Sprachregelung, den kurdischen Befreiungskampf mit der IS als internationalen Terror gleich zu setzen. Die FR kommentiert: „Erdogans Spiel mit dem Feuer“ und deckt auf, dass es immer deutlicher wird, „dass die türkischen Regierung den Einsatz gegen die Dschihadisten nutzt, um vor allem gegen die PKK vorzugehen“. Unterschwellig wird der PKK dennoch das Image einer Terrororganisation unterstellt, wenn die FR in einem Fakten-Kasten schreibt: „Sie hat mehr als 40.000 Menschen getötet“, ohne dies weiter zu qualifizieren.3
„Die Türkei sollte sich endlich für eine einheitliche Strategie entscheiden und nicht gleichzeitig den Islamischen Staat und dessen Gegner bekämpfen“, sagte Elmar Brok (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament, der „Welt“.
Tobias Pflüger, stellvertretender Vorsitzender der Partei „Die Linke“, hat sich in einer Erklärung für den Rückzug der deutschen Patriot-Raketen aus der Türkei, gegen die Unterstützung der türkischen Regierung durch die Bundesregierung und gegen „den Angriffskrieg der Türkei insbesondere gegen die PKK und YPG-Stellungen im Irak und Syrien“ ausgesprochen. 4
Grüne und Linkspartei erhalten in den Massenmedien (TV) auch die Möglichkeit sich zu äußern. So wird nach Claudia Roth jetzt auch Trittin in der SZ zitiert seine Kritik an Erdogan, der vor allem auf die Wahlniedelage gegen die HDP reagiere: „Wer den Nordirak und die Kurden in Nordsyrien angreift, schafft Raum für den IS“.5
1deutsch-tuerkische-nachrichten.29.7.15
2 www.nato.int Pressmitteilung 26.7.2015
3 Ebenda
4 www.die-linke.de 27.5.2015
5 FR vom 28.7.